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„Always on the Run“ – Warum Deutschland dem ESC-Erfolg hinterherrennt

Freitagabend, 16. Februar, kurz vor Mitternacht. Eigentlich ich ist die Sache schon so gut wie gelaufen: Die internationale Jury hat den von vielen Fans hochfavorisierten Sänger Ryk nicht wie erwartet unter die ersten drei gewählt und damit seine Chancen auf einen Gesamtsieg von „Das deutsche Finale“, wie die nationale ESC-Vorentscheidung neuerdings heißt, zunichte gemacht. Um jetzt noch die meisten Punkte auf sich zu vereinigen, müsste das Publikum die Songs von Isaak, Max Mutzke, Bodine Monet und Galant deutlich schlechter bewerten als die Fachjuroren. Davon ist nicht auszugehen. Die Hoffnungen auf eine gute Platzierung beim 68. Eurovision Song Contest in Malmö welken dahin. Oh Boy …


Sänger auf der Bühne des deutschen ESC-Vorentscheids
Sänger Ryk beim deutschen ESC-Vorentscheid in Berlin

Schuldig, schuldiger, am schuldigsten

Schnell werden in den sozialen Medien die Schuldigen an den Pranger gestellt: die Redakteurinnen und Redakteure des NDR, die es mal wieder nicht geschafft haben, eine vernünftige Show auf die Beine zu stellen. Choreograph Marvin Dietmann, der den Act zu statisch und langweilig inszeniert hat. Das neue Wertungsverfahren, bei dem die Punkte von Jury und Zuschauern in das altbekannte 12, 10, 8 … Schema umgerechnet wurden. Barbara Schöneberger, die auf dem Talksofa jede Menge guter Gründe dafür lieferte, warum die Gen Z Boomer zum Fremdschämen findet. Und immer wieder: der NDR, der NDR, der NDR. Schon in den Tagen zuvor hatte die BILD-Zeitung orakelt, dass man dem Sender über kurz oder lang die Verantwortung für den Wettbewerb entziehen und dem MDR übertragen werde.


Authentizität als Entscheidungskriterium

Nun sind Schuldzuweisungen ein bewährtes Mittel, um von unbequemen Wahrheiten abzulenken, die man sich selbst nicht eingestehen will. Eine dieser Wahrheiten ist wohl, dass das deutsche Publikum einen ziemlich mittelmäßigen Geschmack hat und deswegen gerne mittelmäßige Songs wählt, wenn diese nur durch eine „authentische“ Performance geadelt werden. Dieser Pawlow’sche Abstimmungsreflex hat in der Vergangenheit schon Max Mutzke, Elaiza, Andreas Kümmert und jetzt eben Isaak den Sieg beschert – zu Lasten „artifizieller“ aber beim ESC womöglich chancenreicherer Künstler wie Scooter, Unheilig oder Laing.


Geliebter Underdog

Die Deutschen lieben offensichtlich die Geschichte vom Underdog, der es den etablierten Künstlern mal so richtig zeigt. Gleichzeitig blicken sie verächtlich auf andere Länder, die auf der Bühne mehr wagen, als treuherzig auf einer verschlissenen Gitarre zu klampfen und sich mit halbgeschlossenen Augen die Seele aus dem Leib zu schreien. Doch im internationalen Vergleich wird das Alleinstellungsmerkmal Authentizität leider fast immer durch Inszenierung und Ausstrahlung überboten. Letztere hat man – wie Michael Schulte – oder man hat sie nicht – wie Malik Harris. Erstere ist bei „authentischen“ Acts immer eine Herausforderung, denn Pyrotechnik und Tanzeinlagen sind keine Allheilmittel.


Keine Experimente

Dabei ist keineswegs sicher, dass die Chancen von Ryk beim ESC in Malmö besser gewesen wären, so sehr sein Song viele Fans (auch mich) verzaubert haben mag. War die Begeisterung für den Titel wirklich seiner Originalität geschuldet? Oder dass er ähnliche Emotionsregister gezogen hat wie Song-Contest-Gewinner Duncan Laurence? Oder dass sein Text von der unglücklichen Liebe zu einem anderen Mann handelte, was vielen Fans eine willkommene Projektionsfläche lieferte? Letztlich spielt es auch gar keine Rolle: Das ARD-Publikum (zumindest der Teil, der sich an der Abstimmung beteiligte) hat in der Vergangenheit mehrfach bewiesen, dass es Experimente scheut. Und leider scheuen experimentellere Künstler wie Großstadtgeflüster deshalb mittlerweile auch den deutschen ESC-Vorentscheid.


Musik im deutschen Fernsehen ist tot

Wahr ist allerdings auch, dass man keinem, der sich mit Leidenschaft der Musik verschrieben hat, zum Vorwurf machen kann, sich einer Show zu verweigern, in der die Darbietungen zu Pausenfüllern für das gönnerhafte Palaver von Moderatoren und Talkgästen degradiert werden. Tatsächlich gibt es im deutschen Fernsehen gar keine Musiksendung mehr, die diesen Namen wirklich verdient – alles ist nur noch Emotionalisierung, Storytelling und öliges Empowerment ("Der eine Ton, den du zufällig getroffen hast ... Gänsehaut!"). Vor diesem Hintergrund möchte ich den Redakteurinnen und Redakteuren des NDR für ihre Bemühungen danken, in einem für Musik alles andere als förderlichen TV-Umfeld doch noch eine Vorentscheidung auf die Beine gestellt zu haben. Ich persönlich möchte mir so eine Sendung allerdings nicht mehr anschauen – auch nicht vom MDR. Dafür ist mir Musik zu wichtig.


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