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Boykotte, Fehldeutungen und ein alter Irrtum: Der ESC steht nicht vor dem Ende

Nach der Entscheidung der EBU, Israels Teilnahme weiterhin zu ermöglichen, beschwören manche Medien bereits den Zusammenbruch einer 70-jährigen Tradition. Dabei verkennen sie Wesen und Auftrag des Eurovision Song Contest – und die wahren Hintergründe des aktuellen Boykotts.

 

Der Eurovision Song Contest war nie das fröhliche, unpolitische Musikfest, als das ihn manche Kommentatoren nun nostalgisch verklären. Er war stets ein Ort internationaler Fernsehzusammenarbeit, geboren aus dem Wunsch, technische und organisatorische Kooperation über Grenzen hinweg zu ermöglichen. Dass nun einzelne Sender versuchen, durch massiven Druck einen anderen Sender auszuschließen, ist der eigentliche Skandal der Ereignisse vom Donnerstag: Es träfe nicht die israelische Regierung, sondern den öffentlich-rechtlichen Sender KAN – eine der wenigen Stimmen, die sich im eigenen Land kritisch gegenüber der Politik Netanyahus äußern. Wer „United by Music“ ernst nimmt, sollte Partneranstalten schützen, nicht isolieren.


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Die Rückzüge Spaniens, Irlands, Sloweniens und der Niederlande sind womöglich weniger Ausdruck moralischer Prinzipien als eine Mischung aus innenpolitischen Reflexen und finanziellen Erwägungen. Irlands Rundfunk hat bereits vor Monaten eingeräumt, im Fall eines Sieges die Ausrichtung nicht stemmen zu können. Slowenien ringt seit Jahren mit der Frage, ob sich die Teilnahme überhaupt rechnet – erst 2024 wurde aus Kostengründen die nationale Vorentscheidung gestrichen. Da kommt das Israel-Narrativ als Möglichkeit eines Rückzugs mit (vermeintlich) erhobenem Haupt sehr zupass. Die meisten der nun Boykottierenden scheiterten in den vergangenen Jahren ohnehin regelmäßig schon im Halbfinale. Ihr Fehlen wird das Publikum in Deutschland kaum schmerzen. Spanien, einst Teil der „Big Five“, gehört ebenfalls nicht zu den Ländern, die regelmäßig Podienplätze belegen.

 

Eins ist sicher: Die Finanzierung des Wettbewerbs in Wien gerät durch den Rückzug dieser Länder nicht derart ins Wanken, dass der Fortbestand des ESC gefährdet wäre. Der ORF trägt als Gastgeber traditionell die Hälfte der Kosten, die andere Hälfte teilen sich die restlichen Teilnehmerländer. Ja, Spaniens Beitrag entfällt – doch mit der Rückkehr Rumäniens und Bulgariens wächst die Gemeinschaft wieder. Und vielleicht ist der Moment gekommen, überdimensionierte Pausenacts zu überdenken, die in den vergangenen Jahren unverhältnismäßige Summen verschlungen haben.

 

Was bleibt, ist eine Debatte, die weit über den ESC hinausweist: Wie geht es weiter mit der Zweistaatenlösung? Wie mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Europa? Die Entscheidung der EBU war eine Gremienentscheidung, ein Beschluss für die Fortführung gemeinsamer Fernsehzusammenarbeit unter veränderten Bedingungen. Dass staatlich finanzierte Kampagnen zur Unterstützung eines ESC-Beitrags künftig untersagt sind, betrifft alle. Ausgerechnet Israel zum Sündenbock einer Praxis zu machen, die seit Jahren üblich ist – ob durch Plattenfirmen oder Lobbygruppen –, sagt mehr über die politischen Empfindlichkeiten der Boykottierenden aus als über vermeintliche Unfairness.

 

Eines darf über all dem nicht verloren gehen: Die Welt darf die Augen nicht verschließen vor dem Leid in Gaza und dem Westjordanland. Aber wer nun KAN bestrafen möchte, trifft ausgerechnet diejenigen, die im eigenen Land an Vernunft und demokratische Prinzipien appellieren. „United by Music“ bedeutet nicht, Konflikte zu ignorieren – sondern diejenigen zu stärken, die trotz allem den Dialog suchen. Der ESC wird auch diese Krise überstehen. Denn seine Bedeutung liegt nicht in der Illusion eines unpolitischen Festes, sondern in der Fähigkeit, Kooperation trotz politischer Stürme aufrechtzuerhalten.

 
 
 

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